Ein Zeugnis regionaler Jugendstilarchitektur
Freireligiöse Gemeinde feierte 2010 das 100-jährige Bestehen ihrer Weihehalle
Sie ist die älteste Weihehalle Deutschlands – und sie ist ein wunderbares Zeugnis regionaler Jugendstilarchitektur. Der Betrachter kann ins Schwärmen geraten ob des gut erhaltenen architektonischen Kleinods in der Ingelheimer Mühlstraße. Einige Meter in das Gelände eingerückt erhebt sich die Weihehalle der freireligiösen Gemeinde Ingelheims wie ein kleiner Tempel. Flankiert von zwei mächtigen Lindenbäumen passt sich das Gebäude harmonisch in das bauliche Umfeld ein.
Die Weihehalle ist ein Jugendstilbau. Krienke schreibt dazu in seiner Denkmaltopographie: „Die älteste erhaltene Weihehalle Deutschlands stellt einen bedeutenden Beleg für den Einfluss des Darmstädter Jugendstils auf das konfessionelle Bauen in der Provinz Rheinhessen dar.“ Den Jugendstil in unserer Region etablierte Großherzog Ernst-Ludwig von Hessen und bei Rhein 1899 mit der Gründung der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt. Die dort wirkenden Künstler beeinflussten die regionale Industriearchitektur ebenso wie die Bauarchitektur öffentlicher und konfessioneller Gebäude.
Wie zu jener Zeit üblich kamen auch bei der Weihehalle nur ortsübliche Baumaterialien zum Einsatz. So wurde zum Bau Kalksteinquarder verwendet, das Mansardwalmdach mit roten Ziegeln eingedeckt. Die Außenwände gliedern sich in strebepfeilerartige Wandvorlagen und paarig angeordneten Rundbogenfenstern. Die Westfassade dominiert ein prächtiger sandsteinerner Treppenaufgang, der in ein von dorischen Säulen umrahmtes Portal mündet. Das originale kassettierte Türblatt ist noch erhalten, im Sturz findet sich die Jahreszahl der Erbauung: 1910.
Das Innere der Weihehalle präsentiert sich dem Betrachter in bescheidener Vollkommenheit. Kleine Rundbogenfenster gliedern die Längsseiten des Raums, der von einer Korbtonne aus Rabitz überwölbt wird. An der Ostseite zeigt sich eine eingezogene, halbkreisförmige Apsis. Einziger Schmuck in dem hell getünchten Raum – die Apsis wird von wiederkehrenden goldenen Sonnenräder auf rotem Grund umrahmt.
Die Ausstattung der Weihehalle ist weitgehend noch original: Dazu zählen die polygonale Predigerkanzel in der Apsisnische ebenso wie die ornamentierte Gemeindestühle und ein tönernes Abbild des Gemeindegründers Präsident Martin Mohr.
Das Bauvorhaben
In einem Wirtschaftsgebäude ehemaligen Horneckschen Anwesen in der Stiegelgasse hatte deutschkatholische Gemeinde hatte die kleine Glaubensgemeinde über ein halbes Jahrhundert ihren Erbauungssaal. 1909 wurde der Bau einer eigenen Weihehalle wurde in Angriff genommenen. Durch das Vermächtnis des Apothekers Bastian war die Gemeinde in der glücklichen Lage, ein Grundstück im Mühlborn zu besitzen.
Im April 1909 wird eine Baukommission ernannt, der Eudard Döhn, Philipp Kappel, Peter Simon, Franz Berle und der Vorsitzende Priester angehören. Die Kommission prüft die Bauentwürfe und vergibt ab Juni 1909 die einzelnen Gewerke an Ingelheimer Handwerker. Die Gesamtbauaufsicht übernimmt der Wiesbadener Architekt Otto Schmitt, dessen Entwurf den Zuschlag bekam.
Schwestergemeinden spenden für die Erbauungshalle: Frankfurt 70 Mark, Offenbach 50 Mark, Nordhausen 20 Mark, Rüdesheim 150 Mark, Wiesbaden 400 Mark.
Fräulein Schulz Curtine aus Wiesbaden, eine Gesinnungsfreundin der freireligiösen Sache, spendete für Verschönerung der Gartenanlagen zwei Lindenbäume und einige Rosenbüsche.
Während der Baumaßnahmen stellte sich heraus, dass das Grundstück in der Mühlstraße ein bemerkenswerter historischer Ort ist. Am 14. August 1909 berichtete der Vorsitzende Jean Priester, dass drei römische Särge gefunden worden seien. Einer der Särge steht heute noch in der Nähe des Portals, den anderen beiden hat sich das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz angenommen. Die Erbauungshalle, die neben dem rechteckigen Versammlungsraum noch zwei kleine Nebenräume enthält, wurde aus einheimischen, behauenen Steinen erbaut.
Durch einige unvorhergesehene Zwischenfälle verzögert sich die Fertigstellung der Weihehalle. Die ursprünglich für den 12. Juni 1910 geplante Einweihung wird auf den 10. Juli verschoben. An diesem Tag findet eine große Feier, verbunden mit dem 60-jährigen Stiftungsfest, statt. Die Festrede zur Erbauungslokal-Einweihung hielt Prediger Voigt aus Offenbach.